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Zwischen
den
Zeiten

Eine Geschichte von

Beate Rothmaier

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Ein Morgen wie jeder andere. Er war früh aufgestanden, kurz vor fünf, und hatte seinen Malzkaffee getrunken. Auf dem Velo zur Arbeit war ihm der weiche Maiwind entgegengekommen, hatte Lust gemacht auf das Bad im kühlen Seewasser nach dem heissen Nachmittag, wenn er, wie jeden schönen Sommerabend, Frau und Kinder in der Seebadi treffen würde. Als er am Bahnhof vorüberfuhr, erloschen die dunkelorangefarbenen Leuchtbuchstaben des Bahnhofbuffet, davor stand das Automobil des Dorfarztes, der sich einen Frühschoppen gönnte, bevor er nach dem Nachtdienst nach Hause fuhr und die Offizin aufschloss. Der Herr Doktor war einer der wenigen im Ort, der ein solches Gefährt steuern und bezahlen konnte – immer das neueste Modell, wie diesen Chevrolet Master, den er eigens in Amerika bestellt und per Schiff hatte liefern lassen.

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Der Umkleideraum war nur spärlich beleuchtet, doch der Mann, der seit vielen Jahren Vorarbeiter in der Fabrik war, hätte seinen Spind auch blind und im Dunkeln gefunden. Die blauen Arbeitskleider rochen nach kaltem Schweiss und waren vom Motorenölgemisch mit Staub und Dreck steif geworden. Er schauderte, als er in die Latzhosen stieg und die genagelten Schnürstiefel zuband. Alles wie immer und doch irritierte ihn etwas. Im langen Gang zur Halle flackerte eine einsame Glühbirne, und jetzt, als hätte das eine mit dem anderen zu tun, fiel ihm auf, dass es still war. Sehr still. Das Stampfen der Maschinen, das Dröhnen der Motoren, das Klingen und Schaben an den Werkbänken, das Fauchen der Schweissbrenner, das Klicken der Rätschen und Klingen der Werkzeuge, wenn sie auf den Boden fielen, all das war nicht zu hören, und er wunderte sich, denn es war ein Morgen wie jeder andere, ein Werktag im Mai, wie er ihn seit Jahren erlebte, nichts Ungewöhnliches, nichts, was anders gewesen wäre, heute oder in den Tagen zuvor.

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Plötzlich schlug eine Tür, weit entfernt, am anderen Ende der Halle, da war einer und jetzt erst bemerkte der Vorarbeiter, dass er allein war, dass er noch keinen seiner Kollegen gesehen oder gehört hatte. Der Platz vor der Fabrik war verwaist gewesen, der Fahrradständer leer bis auf ein vergessenes Velo, das dort seit Monaten vor sich hin rostete. Hatte er etwas verpasst? Hatte er eine Ankündigung zur Arbeitsniederlegung, zur Werksschliessung, zum ausser der Reihe beschlossenen arbeitsfreien Tag nicht mitbekommen? Der 1. Mai, der Tag der Arbeit war vorüber, die Stechuhr hatte 5.48 Uhr gestempelt und das Datum: der 15. Mai. Der Mann stutzte und blieb stehen, als ein seltsames Zischen ertönte, dann ein tiefer Klang wie von einem Gong. Das kam aus der Fabrikhalle, das musste der andere sein, der vorhin die Tür sanft und doch gut hörbar hatte zufallen lassen.

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Der Vorarbeiter, ein kleiner, gedrungener Mann, fuhr sich mit den Händen über die vielen Haare auf seinem Kopf, legte dann die schwielige Hand, in deren Falten und Rissen sich die Wagenschmiere wie ein feines Gittermuster eingegraben hatte, auf den Drücker der schweren Metalltür zur Halle und öffnete kurz entschlossen. Alle Maschinen weg. Die Werkbänke, die Drehhocker, die Laufkatzen, die Schweissgeräte, die Holzkisten mit den Werkzeugen und den Materialien. Keine Schraube, kein Nagel war mehr da, stattdessen lange Tische auf denen Bildschirme standen, mit einer flachen Tastatur davor, wie er sie von den Schreibmaschinen der Stenotypistinnen kannte.

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Ein offenes Erdgeschoss, weiss getüncht, rhythmisiert von wenigen Stützen, erhellt von einer Fensterfront, die über die gesamte Längsseite reicht, Grün dahinter, Haselsträucher, Gartenidylle. Hohe Metallgestelle, Papierlampenballons, hockergrosse Buchstaben, wie er sie aus der Leuchtschrift des Bahnhofsbuffets kannte, scheinbar wahllos übereinandergestellt, das Geweih eines Zehnenders an einem der Pfeiler, eine braune Kreisfläche am Boden vom Durchmesser eines Kinderkarussells und eine orangefarbene Linie, die von Tür zu Tür den Weg nach draussen zeigt. Dahin, wo der Umkleideraum war, der Spind, die Stechuhr, der Ausgang, sein Velo, das Leben, aus dem er in diese stille, helle Welt gestürzt war, in der er nichts wiedererkannte.

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Pläne an den Wänden, milchig-durchsichtige Kisten mit Metallteilen, Folien, seltsamen Materialien, die er noch nie gesehen hatte. Kleine bunte Maschinen standen herum und von irgendwo erklang seltsame Musik, eine sphärische Stimmung, hell wie das Sonnenlicht, das durch die grossen Fensterscheiben an der Längsfront des Raums – sie immerhin waren noch dieselben – fielen. Draussen rauschte fast geräuschlos ein weissblauer Zug vorbei. Wieder wischte sich der Vorarbeiter über den Kopf, schob seinen Haarpelz vor und zurück, stand ratlos, als er am Ende des Raums, in der gegenüberliegenden Ecke einen Mann stehen sah, der mit dem Rücken zu ihm an einem kleinen Gerät hantierte. Wieder ertönte das seltsame Zischen, begleitet von einem tiefen Brummen, dann roch der ganze Raum nach Kaffee. Echtem frisch gebrautem Bohnenkaffee. Der Mann roch an der kleinen Tasse, hob sie an die Lippen und trank. Er war schlank und trug die langen Haare im Nacken zum Zopf gebunden, wie es im vorigen Jahrhundert Mode gewesen war. Der Vorarbeiter ging vorsichtig einen Schritt zurück und das musste der andere gehört haben, denn nun wandte er sich um und lächelte. Er schien sich nicht zu wundern über seinen ungewöhnlichen Besuch, vielleicht hatte er ihn sogar erwartet?

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«Kommen Sie und sehen Sie, was aus der Werkshalle geworden ist. Wo früher Maschinen Metalle frästen, wird heute skizziert, Schaum geschliffen, Handhabungen mit Modellen überprüft, werden Lösungen entwickelt und jagen sich die Brainstormings.»

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«Brain...», antwortete der Arbeiter mit fragender Stimme, dann, fast andächtig «Ristretto».

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«Möchten Sie einen?», fragte der Langhaarige, und betätigte, als der andere stumm blieb, kurzerhand wieder die Maschine, es brummte und zischte, und wenig später stand ein dampfender Kaffee, schwärzer als die Nacht, in einer Tasse von der Grösse, einer halben Eierschale vor dem Arbeiter. Vorsichtig hob dieser sie an die Lippen und trank. Als er sie bedächtig wieder abstellte, begann der Mann mit dem leicht gräulichen Pferdeschwanz ihm seine Ideen zu erklären. Der Vorarbeiter, den im Augenblick mehr interessierte, wohin seine Arbeitskollegen und der Inhalt seiner Werkshalle, ja, seines ganzen Lebens gekommen war, hörte nur mit halbem Ohr zu, waren ihm doch viele der Begriffe, die der andere benutzte, unbekannt, ja, es war ihm unvorstellbar, dass in einem so stillen Raum überhaupt etwas entstehen konnte, wofür Geld bezahlt wurde, womit man sein Auskommen verdienen konnte, was überhaupt irgendeinen Wert hatte.

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«Das eigentlich Wichtige am Design ist unsichtbar. Die wirklichen Ideen, das, was ein wirkliche gutes Produkt ausmacht, verstehen Sie?» fragte freundlich der Blonde.

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«Nein,» was sollte er auch anderes sagen. Für ihn und seine Kollegen hatte es das, was der andere Design nannte, nie gegeben. Es gab Musterbücher, Entwürfe, Blaupausen, Matrizen und Pläne, denen zufolge ein Werkstück geschmiedet, gefeilt, geschmirgelt und bearbeitet wurde, bis es dem Auftraggeber gefiel, bis er zufrieden war und bezahlte.

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Der Arbeiter schaute in seine Tasse und drehte sie ein wenig, dass die letzten Kaffeetropfen sich sammeln konnten. Dann kippte er sie noch einmal und trank sie leer.

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«Design ist ein Wechselspiel, ein Jagen und Sammeln und Erforschen, und die daran beteiligt sind, Ingenieure, Marketing und Geschäftsleitung, wirken zusammen auf ein Ziel hin, das wir Industriedesigner so genau wie möglich zu verstehen und umzusetzen versuchen, wir vereinen die verschiedenen Wünsche und Ansichten unter einer gestalterischen Idee. Das ist das Ziel. Gelingt dieser Prozess, dann entstehen Produkte und Dienstleistungen, die nicht nur gut, sondern vorzüglich sind. Denn gut, ist mir nicht gut genug.» Der Mann hatte sich in Feuer geredet und dem Arbeiter wurde klar, wie sehr der andere für seine Arbeit brannte. Das erinnerte ihn daran, wie er in der Fabrik angefangen hatte, wie er sich eingesetzt und geschuftet hatte bis zum Umfallen, wie er in nur wenigen Jahren vom ungelernten Arbeiter zum Facharbeiter, zum Vorarbeiter aufgestiegen war, und – doch halt, was hatte der andere gesagt?

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«Früher?» der Fabrikarbeiter war ein einziges Fragezeichen jetzt.

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«Ja, wir sind Produktgestalter und seit 1997 hier. In einem wechselnden Team entwerfen und entwickeln wir Kaffeemaschinen, Putzgeräte, Haushaltgeräte, Sensoren, Laborgeräte, Produkte aus recylierten Skischuhschalen, Küchenmixer, Maschinensteuerungen, User Interfaces...»

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«Maschinensteuerungen,» unterbrach ihn der andere und vergass seinen Verdacht, in eine andere Zeit gerutscht zu sein, sich nicht mehr in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, sondern irgendwo in der Zukunft zu befinden. «Kann ich die sehen?»

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Der Blonde führt ihn an einen der langen Steharbeitsplätze an einen der Bildschirme und beginnt die 3D-Grafiken zu erklären. Die beiden kommen ins Fachsimpeln, trinken Kaffee um Kaffee, der Vorarbeiter vergisst Arbeit, Kollegen, Stechuhr, Frau und Kind. Die beiden verlieren sich in Zeit und Raum. Es ist früher Abend und ein rosa Licht liegt über dem See, als der Vorarbeiter mit einem leichten Schwindel sein Velo besteigt. Kräftig tritt er in die Pedale. Er ist auf dem Weg in die Seebadi, zu Frau und Kindern. Als er das Bahnhofsbuffet passiert, sieht er, dass der Wagen des Doktors noch immer oder wieder da steht, die Leuchtbuchstaben aber sind abgebaut.

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Später lächelt er und steigt ins kühle Seewasser. Ein Abend im Mai, nicht ganz wie jeder andere.

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